Eve hat sich in ein Netz aus Lügen und Kriminalität verstrickt.
Selbstfindungsreise
Im Jahr 2095 lebt die 18-jährige Evergreen Ray eine einzige Lüge. Sie hat die Identität der 86-jährigen Anna Berger angenommen, die mit ihrem Roboterhund Dande in einer kleinen Wohnung inmitten von Wien lebt. Unter diesem falschen Namen verkauft sie für den Kleinkriminellen Lexxe Süßigkeiten und andere verbotene Dinge an wohlhabende Kunden. Darunter der 96-jährige Vincent, ein Mitschöpfer der künstlichen Intelligenz Concordia Vindobona, welche die Stadt beherrscht und alles Ungesunde verboten hat.
Zu Eves Entsetzen wird Vincent nach dem Konsum einiger ihrer Bonbons krank, doch liegt das nicht am Zucker. Wie sich herausstellt, leidet er an einer fortgeschrittenen Krebserkrankung – eine Krankheit, welche die Concordia-KI aus dem Erbgut der jüngeren Generationen entfernt hat. Bei den älteren Generationen wäre die Behandlung derartiger Erkrankungen mittels NanoBots eigentlich auch kein Problem, doch Vincents Silberallergie macht deren Einsatz unmöglich. Es gibt auch silberfreie NanoBots, die Lexxe auf dem Schwarzmarkt besorgen könnte. Doch sein Preis ist hoch. Er verlangt von Eve, nicht mehr nur harmlose Bonbons zu verkaufen, sondern illegale Drogen wie Alkohol und Tabak.
Das Ziel, gemeinsam mit Vincent einen Plan zu entwickeln, die offenkundig außer Kontrolle geratene KI Concordia Vindobona zu stoppen, tritt in den Hintergrund. Obendrein muss sie sich noch mit Vincents Enkel Florent beschäftigen, einem genetisch optimierten Blondschopf, der nicht ahnt, welche Beziehung Evergreen alias Anna zu seinem Opa hat. Die ganzen Komplikationen lenken sie von ihren Verkäufen ab, wobei sie nicht wirklich Lust hat, mit härterem Stoff zu dealen. Kaum hat sie sich mit Florent angefreundet, ruft Lexxe sie zu sich, der sich weder von ihr vertrösten noch anlügen lässt.
Die Lage eskaliert, sodass sie erst einmal ihren Arbeitgeber ausschalten muss. Nachdem Eve ihren Freund Vincent über ihre Vergangenheit und die Gründe für ihre falsche Identität aufgeklärt hat, betritt sie das interaktive Spiel The Game, eine große Multiplayer-Simulation der Marskolonisation. Dort verbringt sie für gewöhnlich ihre Freizeit mit ihrem Bekannten Forest, um ihm zu helfen, genügend Punkte für ein Marsticket zu erlangen. Diesmal muss sie ihn jedoch um einen Gefallen bitten, für den er alle Spielfortschritte verzocken muss. Außerdem soll er ihren Roboterhund, auf dem sie Beweise gegen Lexxe gespeichert hat, den Sicherheitsbehörden übergeben.
Evergreen macht sich unterdessen auf zum Bauernhof des Kriminellen, von wo aus dieser sein Geschäftsimperium leitet. Sie will von ihm ihre alte Identität und ihr MyCom-Armband zurück und ihn dann der Polizei überlassen. Lexxe lässt sich jedoch nicht erpressen und es kommt zum großen Showdown, den nicht alle überleben.
Dystopie mit einigen Logiklöchern
Die Zukunft von Wien sieht nur auf den ersten Blick rosig aus. Die moderne Stadt bietet ihren Einwohnern zwar viele Annehmlichkeiten und die Concordia KI setzt alles daran, die Gesellschaft in Einklang mit der Natur zu bringen. Auf der anderen Seite bedient sich Vindobona der Gentechnik und die Einwohner werden zudem gegängelt und total überwacht. Nicht nur Tabak und Alkohol sind verboten, sondern auch Süßigkeiten. Im Ergebnis hat sich im Untergrund ein Schwarzmarkt etabliert und trotz allgegenwärtiger Überwachungsdrohnen können sich Kriminelle scheinbar so einiges herausnehmen.
Evergreen Ray, deren Name eher untypisch für eine junge Frau indischer Abstammung ist, gerät nach ihrem Findungstag in den Sog der Kriminalität. Der Grund dafür ist geradezu banal und lächerlich. Nachdem es mehr als den halben Roman braucht, bis man endlich die Wahrheit erfährt, die als besonders dramatisch aufgebaut wird, wird man damit abgespeist, dass Evergreen für das Marsbesiedelungsprogramm ausgewählt wurde. Sie möchte jedoch lieber als Schlagzeugerin in einer Band spielen. Okay, die Concordia-KI hat nun andere Vorstellungen von Eves Zukunft, doch kann sie die junge Frau auch nicht zu diesem Schritt zwingen. Das Jobangebot ist ja nur eine Empfehlung.
Angesichts dessen wirkt es ziemlich überzogen, dass Evergreen vor den Behörden flieht und den Kontakt zu ihrer Mutter abbricht, weil die Sicherheitskräfte schon bei ihr daheim auf sie warten. Warum lehnt sie nicht einfach ab? Um der Sache mehr Dramatik zu verleihen, erfährt Eve, dass sie genetisch optimiert wurde, um sich besser an ein Leben auf dem Mars anzupassen. Solche Optimierungen sind eigentlich verboten, womit Concordia Vindobona gegen ihre eigene Programmierung verstoßen hat. Eigentlich ist nur die Entfernung von Erbkrankheiten und Krebs erlaubt, sowie die Steigerung von Intelligenz, was zu hellblauen Augen führt. Das ist etwas, was mit Florent durchgeführt wurde, weshalb dieser seine Augen hinter einer Sonnenbrille verbirgt.
Das alles ist in sich nicht sonderlich schlüssig. Zunächst einmal ergibt es keinen Sinn, dass die Steigerung der Intelligenz ausgerechnet Einfluss auf die Augenfarbe haben soll. Noch unlogischer ist jedoch, dass ausgerechnet diese Art des Cheatens erlaubt ist, wohingegen die genetische Anpassung an ein Leben auf dem Mars verboten ist, obwohl ein solcher Schritt bei der Kolonisierung des Mars absolut sinnvoll wäre – ähnlich wie die Entfernung von Erbkrankheiten, was ja erlaubt ist.
Warum die KI ausgerechnet an Evergreen herumexperimentiert hat, wird ebenfalls nicht ganz klar. Die könnte eigentlich alles publik machen, doch aus unerfindlichen Gründen ergreift sie lieber die Flucht. Um nicht aufgespürt zu werden, entfernt sie ihr MyCom, was sofort einen Alarm auslöst. Dass man sein Kommunikationsgerät nicht mal ablegen kann, offenbart, in was für einer krassen orwellschen Überwachungsdystopie die Menschen leben. Wobei einige schon heute kaum auf ihr Smartphone verzichten können und sich wohl freiwillig ein Display ins Auge pflanzen lassen würden.
Zum Glück gibt es im Jahr 2095 Tricks, wie sich der Alarm des Armbands unterdrücken lässt. In einem Antiquitätenladen erhält Evergreen ein Kästchen aus einem speziellen Plastikmaterial, welches das MyCom vom Datennetz abschirmt. Der Ladenbesitzer hat jedoch unlautere Absichten und liefert Eve an Lexxe aus, der sie im Gegenzug für eine falsche Identität zu illegalen Geschäften nötigt. Spätestens hier hätte die Protagonistin die Reißleine ziehen und sich besser den Behörden stellen sollen. Immerhin entspricht eine Karriere als kriminelle Dealerin noch weniger ihren Vorstellungen als eine Zukunft auf dem Mars. Stattdessen lässt sie sich das ID-Implantat einer alten Dame einsetzen, ohne zu fragen, woher dieses stammt. Erst viel später dämmert ihr, dass Lexxe es von einer säumigen Kundin hat, die ihre Geldschulden mit ihrem Leben bezahlte.
Sogar Morde scheinen der allgegenwärtigen KI zu entgehen, deren Überwachungsdrohnen keineswegs alles im Blick haben. Obendrein sind Smartgeräte wie Eves Roboterhund Dande nicht mit der Concordia verknüpft. Da ist die heutige Technik bereits auf einem höheren und damit bedenklicheren Niveau. Außerdem war die Überwachung mittels biometrischer Kameras schon vor Erscheinen des Buches im Jahr 2023 deutlich verbreiteter, sodass eine 18-jährige Inderin sich niemals als 86-Jährige Österreicherin hätte ausgeben können. Ihr falsches Alter offenbart sie natürlich niemandem, weshalb sie es auch vermeidet, in der Öffentlichkeit mit dem gestohlenen MyCom zu bezahlen. Dennoch müsste sich jeder, der noch bei klarem Verstand ist, fragen, wie eine Migrantin zu einem urdeutschen Namen wie Anna Berger kommt? Ebenso scheint es dem Überwachungsnetz zu entgehen, dass Evergreen überhaupt nicht ins Profil der personalisierten Werbung für eine Frau fortgeschrittenen Alters passt, welche permanent öffentlich in Form von Hologrammen auf sie einhagelt.
Ein totaler Überwachungsstaat, dem ein gewaltiges kriminelles Netzwerk entgeht, und eine KI, die sich in vielerlei Hinsicht ziemlich dämlich anstellt, und jede Menge Menschen, die nicht einmal das Offensichtliche hinterfragen, schaden der Glaubwürdigkeit der Geschichte massiv. Eine gewisse Naivität mag man der Protagonistin, die erst 18 Jahre jung ist und gerade Erschütterndes über ihre Natur erfahren hat, zwar durchaus zugestehen, doch ab einem gewissen Punkt sollte sie dann doch anfangen, nachzudenken. Sie ist ja schließlich nicht dumm, sondern liegt im Gegenteil sogar über dem Durchschnitt.
Hinzu kommen weitere himmelschreiende Logikfehler. Warum bestehen medizinische NanoBots ausgerechnet aus Silber, gegen welches Vincent allergisch ist? Und warum bekommt er als einer der Schöpfer der Concordia-KI von selbiger nicht silberfreie NanoBots zur Verfügung gestellt, obwohl es diese Alternative offenkundig gibt? Warum ist die silberfreie Nanotechnologie nur auf dem Schwarzmarkt erhältlich? Doch diese Fragen verpuffen ohnehin in der Bedeutungslosigkeit, als Eve sich gegen Lexxe stellt, noch bevor sie die gewünschte Ware von ihm erhalten hat. Und das ist auch schon der nächste Kritikpunkt. Ein Großteil der Handlung wird nicht aufgelöst, sondern vorzeitig abgewürgt.
Lose Enden
Der Stil aus der Ich-Erzählerperspektive hat durchaus seinen Reiz und funktioniert weitestgehend sehr gut. So erhält man Einblicke ins Innenleben der Protagonistin aus erster Hand. Leider ist Eve, wie bereits beschrieben, äußerst inkonsequent. Und dieser Inkonsequenz fallen einige Handlungsstränge vorschnell zum Opfer. So hätte eigentlich zuerst Vincent vor dem sicheren Krebstod gerettet werden müssen. Immerhin braucht Evergreen seine Hilfe, um Concordia Vindobona zu stoppen, was der Kern der Haupthandlung ist.
Doch dann verweigert sie Lexxe die Gefolgschaft, was dazu führt, dass dessen Beseitigung die höchste Priorität erhält. Der Plan, den sich Eve einfallen lässt, ist alles andere als ausgereift und geht dementsprechend kräftig nach hinten los. Nur mit viel Glück entkommt sie lebend vom Bauernhof des Ganoven und befördert diesen gleich noch ins Jenseits. Nicht, dass er das nicht verdient hätte, doch nun steht sie als Mörderin da. Und das in einem Moment, wo sie sich doch entschlossen hat, ihre alte Identität wieder anzunehmen und sich endlich den Behörden zu stellen.
Warum sie dabei Anna Bergers Tod durch das Heraustrennen ihres ID-Chips, das Anzünden der Wohnung und die Fälschung einer Botschaft inszeniert, die sie mittels ihrem Robohund an Forest verschickt? Nur ein weiterer Beweis, dass sie anscheinend oft Dinge nicht zu Ende denkt. Ihr muss doch klar sein, dass die polizeilichen Ermittlungen die Sabotage ihrer Wohnung offen legen werden. Und ihr Kumpel Forest dürfte ebenfalls in Erklärungsnot geraten. Es wäre in jedem Fall besser gewesen, den Behörden die ganze Wahrheit zu erzählen. Im schlimmsten Fall wäre sie wegen illegalem Bonbonhandels dran, zu dem sie allerdings genötigt wurde. Wie hoch kann die Strafe darauf schon ausfallen? Zumal Concordia Vindobona Eve aufgrund ihrer Genetik dringend für das Marsbesiedelungsprogramm benötigt. Wenn sie da ein ganzes kriminelles Netzwerk auffliegen lässt, sollte doch Strafmilderung bis hin zum Freispruch drin sein.
Was genau Evergreen den Behörden auftischen wird, bleibt offen, da der erste Band ziemlich abrupt endet. Im zweiten soll es dann schon auf den Mars gehen. Diese Ankündigung macht wenig Hoffnung darauf, dass die losen Enden des ersten Bandes aufgelöst werden. Wird Vincent geheilt? Hat dessen Enkel Florent eine Chance, bei Eve zu landen, und wie wird er darauf reagieren, wenn er von ihr oder seinem Großvater die Wahrheit über ihre Vergangenheit erfährt? Und was wird aus Rays Mutter und ihren Freunden? Es werden ja sicherlich nicht alle mit auf den Mars kommen.
Easter Eggs und kleine Patzer
Was den Roman ein wenig aufwertet, sind ein paar Easter Eggs, mit welchen sich die Autorin als Star Trek-Fan zu erkennen gibt. Allen voran wird Vincent von einem holografischen Arzt behelligt. Sein Hausarzt heißt derweil Zimmerman, so wie der Schöpfer des Holodocs der Voyager. Sein Vorname lautet Julian und er ist genetisch verbessert, so wie Dr. Julian Bashir aus Deep Space Nine. Für alle Trekkies ist das schon gar nicht mehr subtil, sondern ziemlich offensichtlich.
Der Roman baut aber auch eine eigene Serienmythologie auf. So scheint der Klimawandel durch die Concordia-KI zwar weitgehend gelöst, doch haben sich Redewendungen wie „sengende Dürre“ und „verdorrt“ im gängigen Sprachgebrauch niedergeschlagen. Die Natur wird von der KI allerdings weniger in den Urzustand zurückversetzt, sondern den neuen Gegebenheiten angepasst. So wachsen in den städtischen Parkanlagen Wiens gentechnisch veränderte Bäume, die im Dunkeln leuchten. Naturschutz und ökologische Nachhaltigkeit stellt man sich irgendwie anders vor.
Die virtuelle Welt von The Game bemüht sich derweil um wissenschaftliche Korrektheit, doch auch hier gibt es wenigstens einen kleinen Fauxpas. So kann Eve auf der Fahrt durch die Marslandschaft die Calderen mehrerer kleinerer Vulkane an sich vorbeiziehen sehen. Wie klein müssen die Vulkane denn sein, dass sie die Calderen vom Fenster ihres Marsmobils aus sehen kann? Eine Caldera ist nämlich der Krater im Kegel eines Vulkans, den man nur von oben aus sehen kann. Da müsste Eve schon mit dem Geländewagen am Kraterrand entlang fahren oder mit einem Flugzeug darüber hinweg fliegen.
Der Konkurrenzkampf unter den Spielern macht ebenfalls wenig Sinn. Um die meisten Punkte zu sammeln, sabotieren sich die Teams gegenseitig beim Abstecken von Claims. Ein derartiges Verhalten würde in der Realität die Besiedelung des roten Planeten sabotieren und daher hart bestraft werden. Wenn es in dem Spiel darum geht, wer sich für eine Reise zum Mars qualifiziert, sollte doch eher Kooperation gefördert werden und Sabotage zum Punktabzug führen. Die Concordia-KI hat das Konzept des Spiels nicht wirklich gut durchdacht.
Fazit zu Evergreen Ray 1 – Findungstag: Verbesserungswürdig
Der Schreibstil des ersten Bandes ist flüssig und baut Spannung auf. Diese verpufft jedoch größtenteils angesichts der etwas banalen Auflösung, wobei der titelgebende Findungstag erst recht spät im Rückblick thematisiert wird. Die Protagonistin erscheint einerseits durch die Ich-Erzählerperspektive sympathisch, andererseits ist sie ziemlich naiv und draufgängerisch. Das Setting ist zwar interessant und wird sehr bildlich beschrieben, ist aber von einigen Logikfehlern durchsetzt. Die Autorin hat durchaus Talent und schreibt handwerklich gut, die an sich fesselnde Grundidee verzettelt sich allerdings zusehends und endet leider viel zu abrupt.
Info
Autorin: Caroline Hofstätter
Verlag: Selfpublisher
Erschienen: 2023
Einband: Taschenbuch
Seiten: 338
ISBN: 9798862065916
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