Ein Spinnenbiss hat ungeahnte Folgen.
Bekannt und doch irgendwie anders
Spinnenbisse, die Superkräfte verleihen, da muss wohl jeder automatisch an Spider-Man denken. Und tatsächlich ist der Grundplot von Madame Web nicht neu, obgleich die Spinne in diesem Marvel-Werk weder radioaktiv noch gentechnisch verändert ist. Sie stammt auch nicht aus dem Labor, sondern aus dem Dschungel von Peru. Dorthin machen Constance Webb (Kerry Bishé) und Ezekiel Sims (Tahar Rahim) im Jahr 1973 eine Expedition, um die legendäre Spinne zu finden.
Constance hat dabei positive Absichten und möchte die Spinne erforschen, um mögliche Heilmittel für Krankheiten zu entdecken. Ezekiel ist da schon deutlich egoistischer und erhofft sich von der Spinne ewige Jugend sowie übernatürliche Stärke. Kaum ist das Objekt seiner Begierde gefunden, erschießt er die anderen Expeditionsteilnehmer und lässt sogar die schwangere Constance sterbend zurück. Diese wird von Ureinwohnern in eine Höhle gebracht, wo sie den Biss der Spinne erhält. Der kann sie zwar nicht mehr retten, allerdings ihre Tochter, die gesund zur Welt kommt.
30 Jahre später arbeitet Cassandra Webb (Dakota Johnson) als Rettungssanitäterin in New York City. Als sie bei der Bergung eines Verletzten aus einem Unfallwagen mit selbigem von einer Brücke in die Fluten stürzt, werden erstmals ihre Superkräfte aktiviert. Sie beginnt, die Zukunft zu sehen. Zunächst nützt ihr dies jedoch nichts, als sie einen Arbeitskollegen sterben sieht, der kurz darauf tatsächlich bei einem Unfall stirbt. Niedergeschmettert schließt sie sich zu Hause ein.
Dann geschieht jedoch etwas Unerwartetes. Cassandra sieht voraus, dass eine Taube gegen ihr Fenster prallt und stirbt, was sie diesmal verhindern kann. Sie fasst neuen Mut und entschließt sich, zur Trauerfeier für ihren verstorbenen Kollegen zu gehen. Dort kommt sie allerdings nie an, denn unterwegs wird sie Zeuge, wie ein maskierter Irrer drei Mädchen in der Bahn tötet. Diese Vision kann sie verhindern und flieht mit den drei Mädchen Julia (Sydney Sweeney), Mattie (Celeste O’Connor) und Anya (Isabela Merced) aus der Stadt.
Ihr Verfolger ist kein Geringerer als Ezekiel, der neben Superstärke und tödlichem Gift ebenfalls präkognitive Fähigkeiten erlangt hat. Allerdings sieht er im Gegensatz zu Cassandra nicht das, was kurz darauf passiert, sondern hat lediglich einen wiederkehrenden Traum, in dem er von den drei Mädchen getötet wird. Um dies zu verhindern, setzt er alles daran, ihnen zuvor zu kommen. Ein Katz-und-Maus-Spiel beginnt, bei dem Madame Webs Zukunftsvisionen der einzige Vorteil der Flüchtigen sind, denn diese werden ihre Spinnenfähigkeiten erst in der Zukunft erhalten.
Bodenständiger als das MCU
Im ersten Moment dürfte der Grundplot beim Kinopublikum ähnliche Déjà-vus auslösen, wie sie Madame Web erlebt. Doch im Gegensatz zu Spiderman klettert sie nicht die Wände hoch und verschießt auch keine Spinnenfäden aus den Handgelenken. Die Kräfte, welche die Bisse der tropischen Spinne auslösen, sind weitaus bodenständiger. Eine verjüngende Wirkung wird einigen Tiergiften z. B. tatsächlich nachgesagt. Ezekiels vergrößerte Stärke ist ebenfalls nicht so abgehoben wie die von Superman oder die von Hulk, um bei Marvel zu bleiben.
Am außergewöhnlichsten sind da schon die präkognitiven Fähigkeiten, die vor allem bei Cassandra zutage treten. Ihr Name hätte dabei nicht passender gewählt werden können, denn in der griechischen Mythologie erhielt Kassandra, Tochter des trojanischen Königs Priamos, vom Gott Apollon die Gabe der Weissagung. Wobei diese im Prinzip in jedem Menschen schlummert und vom Spinnenbiss lediglich aktiviert wird. Wer hat nicht schon mal Dinge geträumt oder erahnt, die später passiert sind, oder hatte zumindest schon mal ein Déjà-vu?
Dass dies der einzige Vorteil ist, den Cassandra Webb hat, um ihre drei Schützlinge zu retten, macht den Film spannend. Deren Schicksale scheinen miteinander verbunden zu sein, denn Cassandra ist allen schon zuvor begegnet. Allerdings handelt es sich dabei um eine zufällige Synchronizität, die für die Handlung irrelevant ist. Ebenso handelt es sich bei dem Zusammenfinden der vier Damen nur um einen Zufall und sie hätten sich trotz ihrer Begegnung in der Bahn wohl nie kennengelernt, wenn Ezekiel nicht versucht hätte, die Mädchen umzubringen. Damit wird er zum Auslöser seiner eigenen Vision und sorgt dafür, dass daraus eine sich selbst erfüllende Prophezeiung wird. Hätte er die Mädchen in Ruhe gelassen, müsste er sich um sein Leben keine Sorgen machen. Doch mit jedem seiner Schritte beschleunigt er sein Ableben sogar noch.
Seine anfängliche Überlegenheit resultiert übrigens nicht nur aus seiner Stärke und seiner tödlichen Berührung, sondern vor allem aus seinem Zugriff auf Überwachungstechnologie der NSA. Diesen erhält durch den Mord an einer Agentin. Da er nicht gleichzeitig nach seinen Opfern suchen und diese verfolgen kann, bedient er sich wie Batman einer Helferin, die wie Alfred Pennyworth an den Monitoren sitzt und ihn dirigiert. Leider bleibt die Rolle der Amaria (Zosia Mamet) darauf beschränkt, ihren psychopathischen Auftraggeber ans Ziel zu führen. Ihre Bedenken, dass er minderjährige Mädchen töten will, sind viel zu schnell weggewischt.
Das Interessante an diesem Handlungsstrang ist jedenfalls, dass hier die Überwachungsmöglichkeiten der NSA aufgezeigt werden, was ein wenig an Der Staatsfeind Nr. 1 (1998) erinnert. Schon damals waren die Möglichkeiten der Geheimdienste erschreckend – heute sind sie schier grenzenlos, sodass sich im Prinzip niemand auch nur eine Sekunde verstecken kann. Aus diesem Grund ist es eine weise Entscheidung, den Film im Jahr 2003 spielen zu lassen, als es noch keine Smartphones gab. Nur eines der drei Mädchen hat überhaupt ein Handy und das ist schnell aus dem Fenster des Fluchtautos entsorgt.
Als die drei Mädels in Cassandras Abwesenheit den Fehler begehen, ein Diner aufzusuchen, muss auch erst ein Gast die Polizei über die Anwesenheit der vermeintlich Entführten informieren, um Ezekiel wieder auf ihre Spur zu bringen. Würde der Film in der heutigen Zeit spielen, wäre ihre Flucht weit weniger glaubwürdig. Diese führt die drei Mädchen als nächstes in die Obhut eines Arbeitskollegen ihrer Retterin, während Cassandra nach Peru reist, um dort mehr über die Forschungsarbeit ihrer Mutter zu erfahren.
Dummerweise ist die Frau des Kollegen schwanger, und als er sie wegen einsetzender Wehen in die Klinik fahren muss, fasst er den unsagbar dämlichen Entschluss, seine drei Schützlinge mitzunehmen. Julia, Mattie und Anya sind keine Kleinkinder mehr, die man nicht allein lassen könnte, sondern Teenager. Die hätten sich durchaus allein beschäftigen können und nach ihrem Fehltritt im Diner haben sie auch die Gefahr, in der sie sich befinden, längst begriffen. So geschieht, was geschehen muss: Eines der Mädchen wird von einer Verkehrskamera erfasst und identifiziert. Wenig später müssen sie erneut von Madame Web gerettet werden und es kommt zum großen Showdown.
Charaktermomente statt CGI-Feuerwerk
Was dem Film trotz einiger Fauxpas der Protagonisten hoch angerechnet werden muss, sind die ruhigen Charakterszenen, in denen Cassandra, Julia, Mattie und Anya Vertrauen zu einander fassen müssen. Bei ihrer ersten Begegnung handelt Webb noch im Affekt, da sie als Rettungskraft nicht einfach zusehen kann, wie Menschen sterben. Zumal sie inzwischen weiß, dass sie die Zukunft verändern kann. Zwischenzeitlich überlegt sie dann jedoch, die drei Mädels zu verlassen, was sie abermals sein lässt, da sie sieht, wohin das führen würde.
Ihre Schützlinge sind ihrerseits erst einmal skeptisch, denn obwohl sie sich ihres Verfolgers bewusst sind, ist Cassandra für sie zunächst ebenso eine Fremde, die obendrein verrücktes Zeug behauptet, von wegen, sie könne die Zukunft sehen. Wie die Kassandra aus der griechischen Mythologie unterliegt Webb dem Fluch, dass ihr niemand glaubt. Als sie ihre Schützlinge allein im Wald zurück lässt, um daheim in den Aufzeichnungen ihrer Mutter nach Antworten zu suchen, fühlen sich die Mädchen im Stich gelassen. Irgendwann haben sie das Warten satt und kaum plagt sie dann noch der Hunger, begeben sie sich fataler Weise in das Diner, wo die polizeilich Gesuchten erkannt werden.
Ein weiter Fauxpas ist übrigens, wie sie die Stelle im Wald hinterlassen, an der Cassandra sie zurückgelassen hat. Nachdem Mattie kritisiert hat, dass ihr Vater Plastikmüll produziert, der die Meere verseucht, lässt sie selbst achtlos ihren Plastikmüll fallen. Obendrein lassen die drei ihr Lagerfeuer brennen. Es wäre gewiss nicht politisch überkorrekt gewesen, wenn wenigstens eines der Mädels hier die Reißleine gezogen, den Müll aufgehoben und das Feuer gelöscht hätte. Im Gegenteil wäre es schlichtweg notwendig gewesen, denn der Film vermittelt hier den Eindruck, es wäre okay, seinen Müll in die Botanik zu werfen, und es könnte absolut nichts schief gehen, wenn man mitten im Wald unbeaufsichtigt ein Feuer lodern lässt. Das ist einfach nur grob fahrlässig!
Von diesem naiven Fehlverhalten einmal abgesehen wirken die Mädchen jedoch sympathisch und haben alle eine problembehaftete Hintergrundgeschichte. Julias Eltern sind geschieden und in der neuen Familie ihres Vaters ist sie nicht willkommen, Mattie wurde von ihren Eltern im Stich gelassen und muss sich allein durchs Leben schlagen, Anya muss als illegal eingewanderte Latina gar ihre Abschiebung fürchten. Cassandra hat es ebenfalls nicht leicht, ist ihre Mutter doch bei ihrer Geburt gestorben. Obendrein dachte sie all die Jahre, ihre Mutter wäre das Risiko der Dschungelexpedition eingegangen, weil ihr die Karriere wichtiger als ihre Tochter gewesen sei. Dabei war ihr ungeborenes Kind schwer krank und sie hat einzig für ihre Tochter nach einem Heilmittel gesucht.
Solche Charaktermomente sind die größte Stärke des Films, der sich als Setting schon mal schlichte Motelzimmer und Wälder sucht, statt komplett computergenerierte Welten zu erschaffen. Die Action beschränkt sich auf wenige Szenen und wartet erst zum Showdown mit einem wahrhaftigen Feuerwerk auf. Ebenso tragen die Protagonistinnen nur in den Zukunftsvisionen auffällige Superheldenkostüme und sonst kommt nur der Schurke in einem eher schlichten Spinnenanzug daher. Damit wirkt der Film insgesamt angenehm geerdet.
Fazit zu Madame Web: Weniger ist manchmal mehr
Nach all den grellbunten CGI-Spektakeln des MCU, die in Sachen erzählerischer Qualität immer mehr nachgelassen haben, ist Madame Web direkt eine Erholungskur. Columbia Pictures begeht hier nicht dieselben Fehler wie Disney, sodass sich das Ergebnis trotz einiger Schwachstellen durchaus sehen lassen kann.
Auch gegenüber der letzten Columbia-Marvel-Produktion Morbius sticht Madame Web deutlich positiver hervor. Der Film mag zwar ebenfalls nicht perfekt sein, ist aber solide gemacht und weiß zu unterhalten. Zudem wirkt der überwiegend weibliche und diverse Cast nicht aufgezwungen. Die Chemie zwischen den Charakteren funktioniert gerade dadurch, dass sie menschliche Fehler haben und erst Vertrauen zueinander aufbauen müssen.
Info
Drehbuch: Matt Sazama, Burk Sharpless, Claire Parker, S. J. Clarkson
Regie: S. J. Clarkson
Erscheinungsjahr: 2024
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Warpskala
WarpskalaPositiv
- Interessantes Konzept.
- Ruhige Charaktermomente.
- Kritik an Massenüberwachung.
Negativ
- Zu viel Ähnlichkeit zu Spider-Man.
- Eindimensionaler Bösewicht.
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