Emma Stone spielt in der Literaturverfilmung Poor Things eine weibliche Version von Frankensteins Monster, die der patriarchischen Gesellschaft einen Spiegel vorhält. Bislang konnte der Film schon einige Preise in der angefangenen Award-Saison absahnen.
Handlung
Der Film beginnt in Schwarz-Weiß. Wir befinden uns im viktorianischen London und lernen dort Dr. Godwin Baxter (Willem Dafoe) kennen, ein Professor der Medizin mit schrecklich vernarbtem Gesicht, der es versteht, seine Studenten mit unkonventionellen Demonstrationen an frischen Leichen zu verstören. Im Laufe des Films erfahren wir, das Godwins Vater ihn für zahlreiche medizinische Experimente missbraucht hat. Genau wie sein Vater glaubt er nur an die Wissenschaft und beschäftigt sich in seinem Privatlabor mit skurrilen Experimenten. So hat er z. B. verschiedene Tierarten chirurgisch miteinander gekreuzt.
Als die schwangere Victoria Blessington sich verzweifelt von der Tower Bridge in die Themse stürzt, findet Baxter sie und versucht sie zu retten. Er hält sie und ihr ungeborenes Baby am Leben. Er ersetzt ihr Gehirn mit dem ihres Babys, nur um herauszufinden, ob das möglich ist, und was danach mit ihr passiert. Durch eine an Frankenstein erinnernde Konstruktion erweckt er sie erneut zum Leben. Sie kommt zu sich, ist aber auf dem Stand eines Kleinkindes, das alles erst lernen muss. Baxter gibt ihr den Namen Bella und zieht sie faktisch gemeinsam mit seiner Haushälterin groß. Bella nennt ihn Gott, was im Englischen natürlich den direkten Bezug zu seinem Vornamen Godwin hat. Allerdings ist Bella nicht nur extrem neugierig, sondern auch unberechenbar. Baxter isoliert sie komplett von der Außenwelt und erzählt ihr eine abenteuerliche Geschichte vom Tod ihrer Eltern.
Aus dem Kreis seiner Studenten wählt Baxter den wissbegierigen Max McCandles aus, der von da an Bellas Fortschritte akribisch dokumentiert. Erst im Laufe der Zeit erfährt Max von Bellas medizinischer Vorgeschichte. Langsam entwickelt er aber auch Gefühle für sie. Bella ist naiv, unbelastet von der Außenwelt und völlig offen. Sie probiert sich aus und entdeckt langsam ihren Körper. So findet sie viel Freude daran zu masturbieren. Max wirft Baxter vor, ein sexuelles Interesse an seinem Schützling zu haben. Dieser ist jedoch Eunuch und stimmt daher zu, dass Max sich mit Bella verheiratet. Voraussetzung ist aber, dass beide in seinem Stadthaus wohnen bleiben. Dies möchte er vertraglich festlegen.
Aus diesem Grund ruft er seinen schmierigen Anwalt Duncan Wedderburn zu sich, der sofort neugierig auf Bella wird und sich unbeobachtet an sie heranpirscht. Er bietet ihr an, sie auf seine Europareise mitzunehmen, und Bella setzt sich durch und erlangt die Erlaubnis Godwin Baxters. Ab diesem Zeitpunkt erhält der Film einen Perspektivwechsel. Bellas direkte und naive Art konfrontiert uns mit gesellschaftlichen Konventionen und vor allem der patriarchischen Grundstruktur der damaligen Gesellschaft. Bella genießt das sexuelle Vergnügen, das Wedderburn ihr bereitet. Allerdings geht sie in Lissabon auch alleine auf Streifzüge durch die Stadt und betrinkt sich sogar einmal. Duncan verzweifelt zunehmend an Bellas Forschergeist. Einmal wird sie im Hotel als Victoria Blessington erkannt, aber natürlich kann sie sich nicht an ihre frühere Identität erinnern. Um sie besser kontrollieren zu können, schafft Wedderburn sie auf ein Kreuzfahrtschiff. Aber auch dort findet sie schnell Möglichkeiten, Neues zu erlernen und sich von ihm abzugrenzen. Sie freundet sich mit Mitreisenden an und beginnt viel zu lesen und sich über Philosophie Gedanken zu machen. Ihr Gehirn reift immer weiter. Duncan fängt an zu spielen, meistens verliert er, aber eines Abends knackt er den Jackpot. Bella wird bei einem Landausflug in Alexandria auf die Not der armen Bevölkerung aufmerksam. Sie ist verzweifelt ob der Ungerechtigkeit und verschenkt Duncans ganzen Gewinn während dieser seinen Rausch ausschläft. Nun ist er zahlungsunfähig und die beiden werden in Frankreich an Land gesetzt.
Duncan jammert nur noch. So beschließt Bella, sich nun um alles zu kümmern und findet auch schnell eine Möglichkeit, an Geld zu kommen und zwar mit Sexarbeit. Duncan ist so geschockt und verläßt sie. Bella denkt sich nichts dabei und ist sogar froh darüber, viele neue Erfahrungen sammeln zu können. Allerdings hält sie es für besser, dass sich die Frauen ihre Freier aussuchen und nicht umgekehrt, was auf wenig Zustimmung stößt. Bella kommt in Kontakt mit der sozialistischen Bewegung. Sie freundet sich mit der Prostituierten Toinette an, die sie beim gemeinsamen Liebesspiel auf ihre Kaiserschnittnarbe anspricht. Max macht in der Zwischenzeit Duncan in einer Irrenanstalt ausfindig, der ihm verrät, wo er Bella finden kann. Er muss ihr leider die Nachricht überbringen, dass Godwin Baxter an Krebs erkrankt ist und nicht mehr lange zu leben hat.
Zurück in London erfährt Bella die Wahrheit über ihre Vergangenheit. Max und sie wollen weiterhin heiraten, danach möchte sie Medizin studieren. Duncan funkt jedoch dazwischen. Er hat Victorias Ehemann kontaktiert, da er sich an den Vorfall in Lissabon erinnert hat. Dieser stört die Hochzeit und nimmt Victoria wieder mit zu sich in sein großes Anwesen. Der ehemalige Kriegsheld ist jedoch ein grausamer Mann und hält sie gefangen. Er plant, ihre Hysterie damit zu kurieren, dass er ihr chirurgisch die Klitoris entfernen läßt. Es gelingt Victoria / Bella jedoch, ihn zu überwältigen und schwer zu verwunden. Gemeinsam mit Max bringen sie ihn in Baxters Privatlabor und tauschen sein Gehirn gegen das einer Ziege. Wenig später stirbt Godwin Baxter friedlich in Bellas Armen. Nach der Hochzeit zieht Toinette zu den beiden und auch Mrs Prim, die Haushälterin, bleibt weiter bei ihnen. Im Garten lernt Bella für ihre Prüfung während Victorias Ehemann wie eine Ziege meckert.
Rezension
Der Film ist eine schräge Kombination von Fantasy, SciFi-Effekten und Horrorelementen aus Frankenstein mit Steampunk-Elementen. Die entsprechende Stimmung wird von Lanthimos geschaffen, in dem er zunächst schwarz-weiße Bilder für sich sprechen läßt. Gefilmt wurde mit extremen Weitwinkeln, und es kamen vermehrt Fischaugenobjekive zum Einsatz. Das hat sich vor allem auf dem Kreuzfahrtschiff ausgezahlt. Auch die Aufnahmen von Alexandria sind von atemberaubender Schönheit. Lanthimos konnte den skurrilen Humor der Romanvorlage punktgenau treffen. Die Kutschen in London fahren mit Motor, haben aber einen Pferdekopf vorne anmontiert.
Vor allem herauszuheben sind aber die schauspielerischen Leistungen. Willem Dafoe ist großartig als Godwin Baxter. Anstatt durch seine furchtbare Kindheit belastet zu sein, hat er Baxters Forscherdrang und den Zwang, seinem brutalen Vater nachzueifern, perfekt übertragen. Auch Emma Stone kann man nicht genug loben. Ihre Darstellung der Bella, die ohne Scham und angelernten gesellschaftlichen Konventionen durch die Welt geht, ist beispiellos. Sie ist für den Oscar als beste Hauptdarstellerin nominiert und sollte diesen auch mit nach Hause nehmen können. Eine besondere Erwähnung gilt aber auch Mark Ruffalo, der den schmierigen, misogynen Anwalt Duncan Wedderborn kreatives Leben einhaucht. Die Filmmusik von Jerskin Fendrix leistet ebenfalls einen nicht zu unterschätzenden Beitrag. Er verfremdet vertraute Instrumente, so dass sie teilweise unbehaglich rüber kommen, aber trotzdem begeistert die Gesamtkomposition.
Hintergrund
Die Vorlage lieferte der schottische Autor Alasdair Gray. Im Jahr 1992 veröffentlichte er den Roman Poor Things: Episodes from the Early Life of Archibald McCandless M.D. Schottish Public Health Officer. Das Buch gilt als postmoderne Überarbeitung von Mary Shelleys Frankenstein. Das Buch wirkt wie ein Tatsachenbericht, indem Gray Dokumente aus einer aufgelösten Anwaltskanzlei in Glasgow herausgibt.
Das auf dem Roman basierende Drehbuch wurde von Tony McNamara entwickelt, der schon zuvor mit dem griechischen Regisseur Giorgos Lanthimos bei dem Film The Favourite – Intrigen und Irrsinn zusammengearbeitet hat. Für die Rolle der Bella Baxter wurde Emma Stone verpflichtet, die in The Favourite ebenfalls mitgewirkt hat. Lanthimos konnte darüber hinaus Mark Ruffalo, Willem Dafoe und Samy Youssef für die weiteren tragenden Rollen gewinnen.
Premiere feiert Poor Things bei den 80. Filmfestspielen in Venedig, allerdings aufgrund des SAG-AFTRA-Streiks ohne Beteiligung der Schauspielenden. Am Ende der ersten Vorstellung erfolgte ein zehnminütiger Applaus. Die gesamte Produktion ist für einige hochkarätige Preise nominiert. Emma Stone konnte bereits den Golden Globe und den BAFTA-Award als beste Hauptdarstellerin mit nach Hause nehmen.
Fazit zu Poor Things
Das Jahr 2024 ist zwar noch jung, aber ich halte Poor Things jetzt schon für einen der besten Filme des Jahres, eine unbedingte Seh-Empfehlung, die man auf der großen Leinwand genießen sollte.
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Warpskala
WarpskalaPositiv
- skurrile Steampunk-Atmosphäre
- abstrakte, farbenfrohe Bilder
- Leistung des gesamten Casts, vor allem aber Emma Stone und Mark Ruffalo
Negativ
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